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Valeo: Wo smart draufsteht, ist nicht immer smart drin.

Keynote zum neuen Antrieb Smart für E-Bikes von Valeo mit CTO Geoffrey Bouquot

Neben vielem anderen war dieses Jahr ein Jahr der Motoren. Etliche Hersteller haben entweder entscheidende Weiterentwicklungen präsentiert oder sind sogar erstmalig als Anbieter in Erscheinung getreten. Fazua, Amprio, Bosch, Shimano, Linear Labs, Pendix, FreeFlow Technologies und ganz frisch Revonte. Und das sind nur die Vertreter, denen wir uns auf dem Blog gewidmet haben. Mit Valeo beschließt nun eine weitere Premiere das Jahr 2020.

Korrekterweise muss an dieser Stelle gleich ein weiterer Name genannt werden. Zwar steht Valeo als etablierter Automobilzulieferer mit rund 19 Milliarden Euro jährlichem Umsatz im Fokus und dieser Name ziert das Motorengehäuse. Tatsächlich ist diese Neuvorstellung aber untrennbar mit dem Namen Effigear verknüpft. Ebenfalls aus Frankreich stammend, verbirgt sich dahinter Guy Cavalerie, der Erfinder eines Tretlagergetriebes. Damit jagen beispielsweise seinen eigenen Cavalerie-Bikes weltweit über Enduro- und Downhill-Pisten. Eben jenes Tretlagergetriebe stand Pate für das Herzstück des jetzt vorgestellten „Smart E-Bike System“ von Valeo.

Schalten lassen statt selbst schalten

Aus den ursprünglich neun Gängen sind bei Valeo sieben geworden. Und während an einem Fahrrad von Cavalerie manuell geschaltet werden muss, passiert das beim neuen Antrieb für E-Bikes automatisch. Bei diesem System handelt es sich nämlich um einen Elektromotor mit adaptivem Automatikgetriebe, die als Ganzes mit dem gesamten Tretlager inklusive Pedaleinheit verschmolzen sind. Statt Schalthebel drücken oder drehen, heißt es künftig dem Algorithmus vertrauen. Laut Valeo analysiert der euren Tritt, registriert Fahrstil sowie Terrain und leitet davon die optimale Übersetzung ab. Na, fühlt sich jemand an die Automatikschaltung eines Autos erinnert?

Aufbau des E-Bike-Antriebs Smart von Valeo

Der Motor arbeitet bei Valeo auf Basis einer 48-Volt-Niedrigspannung. Grund dafür ist einfach das Knowhow, dass der Hersteller beim Bau anderer elektrisch betriebener Kleinstfahrzeuge wie zum Beispiel Elektromotorräder und -roller oder autonomer Lieferdroiden gesammelt hat. Gewöhnlich werden Spannungen von 24 und 36 Volt bei Antriebseinheiten von E-Bikes genutzt.

Kraftvoll in neue Dimensionen

Fast schon ein wenig irrsinnig mutet es an, welches Drehmoment Valeo in Aussicht stellt. Nach eigenen Angaben leistet das System wohl konstant 130 Newtonmeter. Dies entspräche dem Achtfachen dessen, was ihr aus eigener Kraft erzeugen könnt. Zusätzlich kündigt der Hersteller etablierte Funktionen wie eine Schiebehilfe und eine Anti-Diebstahl-Funktion, mit der ihr den Antrieb ohne Schloss blockieren könnt, wenn ihr das Bike abstellt. Außerdem erwähnt der Hersteller in einer Pressemitteilung eine Boost-Option. Die soll euch das Überholen und das Erklimmen besonders steiler Anstiege erleichtern. Zumindest beim erstgenannten Zweck wird der Boost wohl trotzdem hin und wieder verpuffen. Etwa, wenn derjenige, den ihr überholen wollt, bereits selbst 25 km/h oder schneller fährt. Auch der Boost wird sich garantiert an das Geschwindigkeitslimit des E-Bikes halten müssen.

Studie eines E-Mountainbikes mit Smart E-Bike System von Valeo

 

Prototypen mit Licht und Schatten

Das wird dann im Ermessen des Fahrradherstellers liegen. Valeo selbst möchte nur als Anbieter eines Antriebes auftreten. Ambitionen, eigene Bikes auf die Straße zu bringen, hegt das Unternehmen anscheinend nicht. Um zu veranschaulichen, wie das im Zweifelsfalle aussehen könnte, hat Valeo Aufnahmen von vier Prototypen veröffentlicht. Modell Nummer eins geht in Richtung Trekking- und City-Bike. Die zweite Variante ist ein Hardtail-E-MTB. Deutlich ungewöhnlicher ist mit Nummer drei ein Vintage-Bike, dessen Entwurf an Motorräder von Indian aus den 1930er Jahren erinnert. Und zu guter Letzt ist ein E-Cargobike zu sehen. Dessen Rahmen stammt zweifellos aus dem Hause Omnium. Unter den vorgestellten Bikes ist es aus unserer Sicht das Stimmigste. Die enorme Leistungsfähigkeit des Motors passt hervorragend zum Anforderungsprofil eines E-Lastenrades. Erst recht, da Valeo eine Option angekündigt hat, die das Rückwärtsfahren ermöglicht Energie aus dem Bremsvorgang zurückgewinnt.

Studie eines E-Lastenrades mit Smart E-Bike System von Valeo

 

Die anderen E-Bikes können nicht durchweg überzeugen. Teilweise liegt das an der etwas lieblos wirkenden Finalisierung der Prototypen. Beispielsweise sind Kabel behelfsmäßig mit Kabelbindern am Rahmen befestigt. Am Rahmen des Mountainbikes ist der Akku extrem weit oben am Unterrohr montiert. Das setzt so hoffentlich niemand wirklich um. Denn der große und sicher nicht leichte Akku macht dort oben sehr viel der positiven Fahreigenschaften zunichte, die das schön tief positionierte Antriebssystem eigentlich ermöglicht. Zudem konterkarieren die schlanken Rahmenrohre dieses Bikes den ausgesprochen klobig wirkenden Valeo Smart. Ähnliches gilt für die Version des Trekking-E-Bikes. Wenn dies ein Rad für längere Ausflüge sein soll, wo bleibt da der Platz für etwas Selbstverständliches wie einen Flaschenhalter? Und warum werden plötzlich wieder Displays verbaut, die so aussehen, als seien sie auf dem Stand vor zehn Jahren stehengeblieben?

Studie eines Trekking-E-Bikes mit Smart E-Bike System von Valeo

 

Anspruch und Wirklichkeit

Vor diesem Hintergrund irritiert der Ton der Franzosen in der Pressemitteilung ein wenig. Darin bezeichnen sie sich als Revolutionäre des E-Bike-Antriebes, die dem Markt eine neue Verheißung bringen. In einer per Video von Geoffrey Bouquot, CTO bei Valeo, vorgetragenen Keynote werden Details wie der Verzicht auf eine Schaltung, ein Fahrradschloss oder eine Fahrradkette als Innovation angepriesen. Nun, dies sind auch Innovationen. Nur gehen sie nicht auf das Konto von Valeo. Da hat jemand beim Rühren der Werbetrommel sich wohl am eigenen Klang berauscht.

E-Bike Atelier Heritage mit Antrieb Valeo Smart

Beeindruckend groß

Abschreiben solltet ihr Valeo deshalb noch lange nicht. Schließlich sprechen einige Dinge auch für den Neuling. Da ist zum Beispiel das in der Keynote erwähnte Wachstum des Marktes für E-Bikes. In den kommenden zehn Jahren könnte der Umsatz in diesem Segment um das 15-fache ansteigen. Die Zahlen gehen auf eine Prognose des McKinsey Center For Future Mobility aus diesem Jahr zurück. Ähnliches hat kürzlich erst eine Expertengruppe von Cycling Industries Europe (CIE), dem Verband der europäischen Fahrradindustrie CONEBI sowie European Cyclists‘ Federation (ECF) vermeldet.

Profitieren wird der Automobilzulieferer mit Sitz in Paris zudem von seiner Größe. Laut Wikipedia arbeiten aktuell rund 115.000 Mitarbeiter in 33 Ländern für Valeo. Der Konzern unterhält mehr als 190 Produktionsstandorte und treibt Entwicklungen an beinahe 60 Forschungs- und Entwicklungszentren weltweit voran. Da ergeben sich zwangsläufig immense Synergien beim Transfer von Wissen und Ausstattung. Nicht umsonst betont Valeo die Höhe der eigenen Produktionskapazitäten und verweist auf eventuell erhebliche Skaleneffekte. Im Klartext heißt das: Wir können liefern – günstig und nicht zu knapp. Gerade in Zeiten des E-Bike-Booms gewinnt das Argument der Lieferfähigkeit zunehmend an Bedeutung. Gut möglich, dass schon recht bald weitere News von Valeo eintreffen. Oder von einem anderen Motorenhersteller.

 

Bilder: Valeo

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