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Studie: 2035 steigt fast jede*r Zweite im Nahverkehr aufs Rad

Studie zum Potenzial des Fahrradverkehrs in Deutschland des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI)

Um den Fahrradverkehr der Zukunft in Deutschland zu entwickeln, folgt die aktuelle Bundesregierung dem Nationalen Radverkehrsplans 3.0. Dessen Ziele könnten viel zu niedrig angesetzt sein. Zu diesem Ergebnis kommt jetzt eine aktuelle Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI). Sie hält eine Verdreifachung der bislang anvisierten Werte für machbar. Vorausgesetzt, es wird mehr investiert, Maßnahmen werden schneller umgesetzt und sowohl politischer als auch individueller Wille treiben das Vorhaben voran.

Während der Corona-Pandemie zeigte sich für einen kurzen Moment, mit welcher Dynamik sich das Verkehrsgeschehen innerhalb unserer Städte und darüber hinaus verändern kann. Im Schnellverfahren geschaffene Fahrradwege sowie Abstellplätze und umgewidmete Fahrspuren ließen erahnen, welche Alternativen unser Alltag bereithält. Nicht alles davon war perfekt zu Ende gedacht, manches wurde längst wieder zurückgenommen. Nichtsdestotrotz haben Metropolen wie Paris, Sevilla, Mailand oder London den Enthusiasmus der Zeit in eine langfristige Strategie überführt. Dort wird dem Radverkehr künftig eine wesentliche größere Rolle zugeschrieben.

Sind 15 Prozent schon das Maximum?

Und in Deutschland? Hier möchte die Bundesregierung des Anteil des Fahrrades im Mix der Verkehrsmittel im Nahverkehr von elf Prozent aus dem Jahre 2017 bis 2030 auf 15 Prozent steigern. Die im Alltag mit dem Fahrrad zurückgelegte Wegstrecke soll sich von 3,7 Kilometer auf 6,0 Kilometer verlängern. Insgesamt würde sich dadurch der Anteil des Radverkehrs an der Verkehrsleistung von drei Prozent auf sechs Prozent im Jahre 2030 erhöhen. Nach Ansicht von Claus Doll, Clemens Brauer und Dorien Duffner-Korbee wäre deutlich mehr möglich. Wie viel genau, haben die Forschenden vom Competence Center „Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme“ am ISI in ihrer gemeinsamen Studie dargelegt. Diese trägt den Titel „Potenziale des Radverkehrs für den Klimaschutz und für lebenswerte Städte und Regionen. Neue Prognoseverfahren für Angebot und Nachfrage im Fahrradland Deutschland bis 2035“. Sie entstand im Auftrag der Bundesgeschäftsstelle des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club e. V. (ADFC).

In der Komplettfassung umfasst die Studie 77 Seiten. Wir versuchen, euch mal die zentralen Inhalte so kompakt wie möglich und so ausführlich wie nötig wiederzugeben.

1. Was ist das für eine wissenschaftliche Arbeit?
2. Welche Grundvoraussetzungen braucht ein besserer Radverkehr?
3. Welches Potenzial steckt laut Studie im Radverkehr in Deutschland?
4. Wie kann das skizzierte Potenzial freigesetzt werden?
5. Welche konkreten Handlungen empfehlen die Forschenden?
6. In welchem Zeitrahmen kann die Vision der Studie umgesetzt werden?

1. Was ist das für eine wissenschaftliche Arbeit?

Wie der Name verrät, haben die Experten vom ISI Potenziale betrachtet. Es handelt sich weder um eine Analyse eines IST-Standes noch um eine wissenschaftlich untermauerte Prognose und schon gar nicht um einen fest formulierten Maßnahmenplan. Nichts von dem, was dort zu lesen ist, hat eine Kommune, ein Landkreis, ein Bundesland oder die Bundesregierung beschlossen. Was aus unserer Sicht schade ist, denn viele enthaltene Szenarien klingen in den Ohren von Radfahrenden wie Musik.

Stattdessen wird auf den über 70 Seiten sehr wohl der IST-Stand erhoben. Die Forschenden erweitern allerdings das Bild um Aspekte, die an anderen Prognosen fehlen. Sie schätzen ab, welche Effekte sich ergeben, wenn sich unsere Werte und Einstellungen in Bezug auf aktive Mobilität generell und auf das Radfahren im Speziellen ändern. Sie beziehen Verkehrsmittel in ihre Vorhersagen ein und berücksichtigen dabei jedoch, welche Qualität Menschen denen zuschreiben. Und sie registrieren, dass Pedelecs den Fahrradmarkt zu einem viel höheren Grad inzwischen durchdrungen haben als noch vor Jahren.

2. Welche Grundvoraussetzungen braucht ein besserer Radverkehr?

Als einen wesentlichen Eckpfeiler für einen Radverkehr, der von den Menschen gern angenommen wird, nennt die Studie eine Fahrradinfrastruktur, bei der motorisierter Individualverkehr (MIV) und geschützte Radwege baulich voneinander getrennt sind. Die Infrastruktur setzt sich aus Radverkehrsnetzen zusammen, die „dicht, lückenlos, sicher und komfortabel“ gestaltet sind.

Bei der Planung und Implementierung sehen die Forschenden ein hierarchisches System innerhalb des urbanen Personenverkehrs. Obwohl es um den Radverkehr geht, stehen interessanterweise an dessen Spitze nicht die Fahrradfahrenden. Startplatz eins ist stattdessen für die Zufußgehenden reserviert. Dann folgt der Radverkehr. Prio Nummer drei genießt der öffentliche Personenverkehr. Erst am Ende dieser Auflistung erscheint der motorisierte Individualverkehr.

Fahrradampel mit Regensensor in Rotterdam

Diese Fahrradampel in Rotterdam verfügt über einen Regensensor. Registriert dieser, dass es regnet, erhalten Fahrradfahrende öfter grünes Licht als bei trockenem Wetter. © Gemeente Rotterdam

Persönliche Anreize und gesetzliche Vorgaben im Mix

Dem Faktor Mensch schreibt die Studie eine weitere tragende Rolle zu. Gute Radwegenetze allein würden die Menschen nicht vom Auto auf das Fahrrad umsteigen lassen. Dafür brauche es zusätzlich eine „positive Fahrradkultur“. Die könne man schaffen, in dem man mithilfe von Kampagnen für das Fahrradfahren werbe oder das Pedalieren über mögliche Belohnungssysteme fördere.

Für das urbane Umfeld seien zudem Maßnahmen nötig, die den Autoverkehr, wie wir ihn heute vielerorts erleben, stark zurückdrängen würden.

  • verkehrslenkende Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in den Quartieren
  • Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts
  • weniger Platz für den ruhenden und fließenden Pkw-Verkehr
  • Flächenumverteilung gewonnener Flächen zu Gunsten des Fuß- und Radverkehrs
  • höhere Parkgebühren

Dort, wo heute bereits ein Teil dieser Grundvoraussetzungen geschaffen wurden, wird erkennbar, was damit gewonnen werden kann. Städte wie Münster und Oldenburg melden einen Anteil vom Fahrrad am städtischen Verkehrsmix von 47 Prozent beziehungsweise 43 Prozent. Zur Erinnerung: Der Nationalen Radverkehrsplans 3.0 ist auf 15 Prozent im Jahre 2030 ausgerichtet.

3. Welches Potenzial steckt laut Studie im Radverkehr in Deutschland?

Die Unterschiede zu den Zielen des Nationalen Radverkehrsplans sind eklatant. Über das ganze Land hinweg erachten die Forschenden einen Anteil von 45 Prozent des Fahrrades am Verkehrsmix auf Strecken bis zu einer maximalen Länge von 30 Kilometer als realistisch. In speziellen Regionen könne dieser Wert sogar auf 63 Prozent ansteigen.

Grafik mit der Darstellung des Potenzials des Fahrradverkehrs in Deutschland laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI)

Liefe alles optimal, wäre ein Anteil des Radverkehrs im Personenverkehr bei Strecken bis maximal 30 Kilometer von 45 Prozent nach Ansicht der Forschenden bis 2035 erreichbar.

Dieser Wandel gehe einher mit beträchtlichen Reduzierungen beim Ausscheiden von Treibhausgas-Emissionen. Im Personenverkehr ließen sich für die erwähnten Streckenlängen bis zu 19 Megatonnen an Kohlendioxid-Äquivalenten einsparen. Das wäre ein Minus von 33,5 Prozent in diesem Segment im Vergleich zu 2017. Ein Minus, das ein großes Plus für uns alle bedeuten würde.

Grafik mit der Darstellung des Potenzials zur Einsparung von Treibhausgasemissionen im Fahrradverkehr in Deutschland laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI)

Mehr Radverkehr = viel weniger Treibhausgasemissionen im Personenverkehr auf kurzen Strecken. Auf diese kurze Formel lässt sich ein Potenzial bringen, das die Studie für Deutschland erkennt.

4. Wie kann das skizzierte Potenzial freigesetzt werden?

Frei nach dem Motto: Von nichts kommt nichts, verbergen sich hinter den genannten möglichen Zuwächsen und Reduzierungen erhebliche Anstrengungen. Die Studie ordnet diese Anstrengungen drei Bausteinen zu. Sie bauen nicht aufeinander auf, sondern greifen ineinander – müssen folglich auch parallel initiiert werden.

Baustein 1: Einladende Infrastruktur
Das Fahrradwegenetz der Städte, Gemeinden und Regionen wird um den Faktor drei verlängert und zu einem bundesweit lückenlosen Radwegenetz zusammengeführt. Angelehnt an bewährte Konzepte aus den Niederlanden stehen dabei Sicherheit und Komfort der Radfahrenden im Fokus, speziell bei der Gestaltung von Kreuzungen und Fahrradabstellanlagen. Begleitend dazu erhalten Zufußgehende und Radfahrende in einen gesetzlich gesicherten rechtlichen Rahmen, der eine Gleichberechtigung in Personenverkehr ermöglicht.

Fahrradparkhaus des Anbieters V-Locker in Bonn

Ein Fahrradparkhaus wie hier in Bonn vom Schweizer Unternehmen V-Locker dürften Fahrradfahrende deutlich positiver bewerten als die Abstellmöglichkeiten, die stattdessen an Bahnhöfen oder Bushaltestelle heutzutage mehrheitlich anzutreffen sind.

Baustein 2: Fahrrad im Umweltverbund
Radverkehr und öffentlicher Personenverkehr werden eng miteinander verknüpft. Haltepunkte und Bahnhöfe erhalten Abstellanlagen, die in puncto Größe, Sicherheit und Komfort heutige Standards deutlich übertreffen. Das Mitnehmen von Fahrrädern in Bussen und Bahnen wird günstig, mit genügend Platz vorausgedacht und bequem buchbar.

Baustein 3: Fahrradfreundliche Kommunen
Städte und Gemeinden rücken im Sinne des Konzepts der 15-Minuten-Stadt die Nahversorgung in das Zentrum ihrer investiven, stadtbaulichen, regulatorischen und preispolitischen Maßnahmen. Alltagswege für Beruf, Erledigungen und Freizeit lassen sich mehrheitlich zu Fuß und per Rad zurücklegen.

Grafik zu den drei Bausteinen der Studie zum Potenzial des Fahrradverkehrs in Deutschland des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI)

Was hier ein wenig wie eine zeitliche Abfolge wirkt, ist von den Forschenden als ineinandergreifende Teile eines gemeinsamen Puzzles gemeint.

5. Welche konkreten Handlungen empfehlen die Forschenden?

Bevor die Studie einzelne Maßnahmen nennt, rückt sie erneut den Menschen in den Mittelpunkt. Ohne die passende Einstellung sowohl in der Politik als auch unter den Menschen vor Ort seien keine der genannten Dinge umsetzbar. Zuerst brauche es Willen und Mut, dann würden finanzielle und personelle Mittel folgen. Dort, wo die Bekenntnis zur Stärkung des Radverkehrs gesellschaftsübergreifend in reales Handeln gemündet hätte, könne man schon jetzt beobachten, was aus großen Anstrengungen heraus erwächst. Bund und Länder seien in der Pflicht, gerade kleineren Kommunen unter die Arme zu greifen und mit Geld, Knowhow und weiteren nötigen Ressourcen zu unterstützen.

Unter den Handlungsempfehlungen finden sich etwa folgende Punkte:

  • an Positivbeispiele aus den Niederlanden, Belgien oder Dänemark angelehnte Netzkonzepte erstellen
  • Tempo beim Bau von Radwegen durch kürzere Planungs- und Bauzeiten forcieren
  • vorhandene Radwege qualitativ aufwerten
  • vorhandene Flächen zugunsten von Radwegen, Radabstellanlagen, Gehwegen und Aufenthaltsflächen umwidmen
  • für Pkw reservierte Fahrspuren und Parkraum zurückbauen
  • Kommunen größere Freiheiten bei der Umsetzung individueller Verkehrspolitik einräumen
  • verschiedene Nutzungsansprüche von Straßen im Sinne urbaner Mobilität in einem reformierten Baugesetzbuch verankern
  • gemeinschaftliche Gestaltungsprozesse initiieren, in denen alle Beteiligten frühzeitig und unbürokratisch zusammenkommen

6. In welchem Zeitrahmen kann die Vision der Studie umgesetzt werden?

Den Forschenden scheint sehr wohl bewusst zu sein, welches enorme Vorhaben das Umsetzen der Potenziale bedeuten würde. Sie räumen ein, dass es „viel Zeit und erhebliche Ressourcen“ brauche, bis aus dem Leitbild eine reale Momentaufnahme werden könne. Daher denken sie über das Zieljahr 20230 des aktuellen Nationalen Radverkehrsplans hinaus und visieren 2035 an. Dieses Datum sei jedoch nicht in Stein gemeißelt. Je nach Ausgangslage, finanziellen und personellen Ressourcen sowie der Konsequenz des Handelns von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ließen sich Teile des Leitbilds schneller oder langsamer umsetzen. Dies gilt vermutlich auch, ob man Deutschland insgesamt als Bezugsrahmen betrachtet oder einzelne Regionen.

 

Studie: Doll, C.; Brauer, C.; Duffner-Korbee, D. (2024): Potenziale des Radverkehrs für den Klimaschutz und für lebenswerte Städte und Regionen. Neue Prognoseverfahren für Angebot und Nachfrage im Fahrradland Deutschland bis 2035 – Langfassung. Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe, im Auftrag des ADFC Bundesverbands, Berlin.

 

Bilder: Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e.V. (ADFC); V-Locker AG

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